Daniel Kötter

ingolf

Musiktheater, Film, Performances

Daniel Kötter / Hannes Seidl

ingolf

sechsteilige Musiktheater-Reihe

17 april/ 8 may/ 4+25 september 2016, 6pm
ingolf #1 lebt allein

4/25 september 2016
ingolf #2 geht arbeiten

28 october/20 january 2017
ingolf #3 wohnt

21 april 2017
ingolf #4 zieht aus

28./29.4./2.-6.5.2017
ingolf #5 macht Freunde

6 july 2017
ingolf #6 geht auf die Bühne

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Gastspiele:

8.-22. April 2017
Mousonturm Frankfurt

11.-14. Mai 2017
sophiensaele Berlin

Eine gemeinsame Produktion des Musiktheater im Revier mit dem Fonds Experimentelles Musiktheater

Film, Musik, Regie Daniel Kötter, Hannes Seidl
Szenographie Rahel Kesselring
Dramaturgie Anna Grundmeier (MiR), Roland Quitt (FeXm)
Produktionsbüro Berlin: ehrliche arbeit - freies Kulturbüro

 

 

Ingolfs Oper beginnt um 5 Uhr früh an einem heiteren Oktobertag im Jahr 2015, just in dem Moment, als in einer 30qm großen Senioren-Wohnung in der Max-Beer-Straße im Berliner Bezirk Mitte die Zeitschaltuhr den kleinen Röhrenfernseher neben dem Bett einschaltet und der Sprecher einer zufällig gewählten n-tv Fernsehdokumentation von fernen Welten erzählt. Die Pendel und Uhren an der Wand des Wohnzimmers ticken vor sich hin, auf der Baustelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite beginnt der Arbeitstag. In den folgenden 20 Stunden wird der Bewohner der Wohnung, Ingolf Haedicke, das tun, was er immer macht:  Kaffee trinken, rauchen, Gurkenbrote essen, elektronische Musikinstrumente löten und dabei darüber nachdenken, wie eine Oper klingen müßte, die so schön ist wie Sirenengesang und bei der man trotzdem „einfach gehen kann, ohne dass man dabei andere stört, man geht einfach weg.“ 

Diese zwanzig Stunden von Haedickes Alltagsleben in seiner Berliner Wohnung, dokumentiert im einstündigen Film ingolf #1 lebt allein, waren Ausgangspunkt und Folie für eine ganze Reihe von Simulationen, Übernahmen und Transformationen, von Annäherungen zwischen dem, was wir Oper und dem, was wir Alltag nennen. Mitarbeiter des Musiktheater im Revier Gelsenkirchen haben sich über Monate hinweg den Alltag Haedickes anverwandelt und daraus ihren eigenen gemacht. Die Sängerin Sina Jacka ist nach Berlin gefahren, um temporär in Haedickes Wohnung zu leben, während die Werkstätten des Theaters originalgetreue Kopien dieser Wohnung und seiner Einrichtung geschreinert, gemalert und zusammengestellt haben. 

Dieser Arbeits-Prozess, für das Publikum in der Hörspiel-Installation ingolf #2 geht arbeiten  in den Werkstätten des MiR erlebbar, folgte dem Rhythmus und den Klängen der Wohnung und des Theaters: der Ton des Fernsehers, das Uhrticken, das Surren des Kühlschranks, das Sägen und Schleifen in den Werkstätten, das Einstimmen des Orchesters, all das begleitet durch den endlosen, monodischen Gesang von ingolfs Theremin, bis schließlich Theaterbühne und ingolfs Wohnung ununterscheidbar waren. Mitarbeiter des MiR und das Publikum bezogen den Nachbau der Wohnung gemeinsam als temporäre Wohngemeinschaft. Es wurde gemeinsam gekocht, geschlafen, ferngesehen und musiziert (ingolf #3 wohnt). Wer eigentlich dieser ingolf ist, spielte da schon lange keine Rolle mehr. Auch nicht, wo das Theater beginnt und wo es aufhört. Denn was jetzt galt, war: „Raus aus dem Theater, aus dieser bürgerlichen Muffbude. Denn das klassische Opernpublikum geht natürlich nicht zu so etwas. Und darum ist es ja meine Idee, ich bleibe dabei, das VOR dem Theater aufzuführen. Am liebsten wäre mir, das Theater sagt, so wir machen heute ein Open Air und wer kommt der kommt.“  

Wieder war es jene lange einstimmige Melodie, jener ingolfsche Sirenengesang, der die Festgesellschaft auf ihrem einstündigen Fußweg durch die Gelsenkirchener Innenstadt getragen hat, gespielt von jenen, denen die Oper normalerweise keine Bühne bietet: Spielmannszüge, Blasorchester, kurdische Folkore-Bands (ingolf #4 zieht aus). Das Ziel war nicht die „Oper für alle“, ausgedacht von denen, die damit Geld verdienen und gesellschaftliche Anerkennung suchen, sondern die „Oper von allen“, von den jungen albanischen Beatboxern, die die Langeweile ihrer schulfreien Nachmittage bei ingolf im ehemaligen Schuhhaus Bruhns am Neumarkt verbrachten, genauso wie von der älteren Dame mit ihrem selbstgebrauten Himbeer-Likör. Ingolfs Wohnung, in Teile zerlegt und aufgeblasen auf 200qm, wurde für acht Tage zur Kulisse für die öffentliche Begegnung mit dem Alltag der anderen und ihrer Musik (ingolf #5 macht Freunde). „Oder um es auf einen Satz zu bringen: vor was ich wirklich Angst habe, ist Langeweile. Langeweile, tödliche Langeweile, wo man anfängt, die Sekunden zu zählen.“

DIe Oper war damit an ihrem Ende. Was noch fehlte, war die Ouvertüre. Zurück auf der Bühne der „bürgerlichen Muffbude“, gehört der Abschluß nun der Eröffnungsmusik, der langen Melodie einer Ouvertüre zu einer Oper, die es so nie geben wird, weil es sie schon gegeben hat. Wenn ingolf jetzt noch einmal mit allem Pathos auf die Bühne geht, ist die Zeitschaltuhr für den nächsten Morgen schon programmiert. Der Zuschauerraum bleibt dabei leer, denn wir sind ja schon alle gemeinsam auf der Bühne, bei Currywurst und Bier (ingolf #6 geht auf die Bühne). Wer sollte da noch unten im Parkett sitzen? „Die Befreiung wäre für mich schon, wenn Publikum frei stehen kann, sich frei bewegen kann, mit Rauchen, Kaffee trinken und so. Dass sie nicht gebunden sind an einen Sitz, der nach einer Stunde drückt und all dieser Unsinn, den diese geschlossenen Räume mit sich bringen.“ 
Daniel Kötter

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ingolf ist eine Antwort auf die Frage: Wie lassen sich Alltagspraktiken und Theaterbetrieb kombinieren, sich gegenseitig virtuos fiktionalisieren und aushebeln? Wie kann Alltag Kunstforschung betreiben und wie künstlerische Praxis Alltagsforschung.
 
ingolf #1 lebt allein
 

ingolf ist zunächst einmal Ingolf Haedicke, 72, ehemaliger Leiter der Phonothek des Musikwissenschaftlichen Instituts der Humboldt Universität Berlin, ehemaliger Mitarbeiter des DDR-Rundfunks und passionierter Hobby-Bastler.

Für einen Tag – vom Aufstehen bis zum Einschlafen – wird er der Protagonist des ersten Teils des Projekts ingolf. Während der Filmemacher Daniel Kötter und der Komponist Hannes Seidl ihn durch den Tag mit Kamera und Mikrofon begleiten – beim Basteln, bei Gesprächen mit ehemaligen Studenten, in seiner Stammkneipe – skizziert ingolf immer wieder seine neue Oper. Und während er über sie spricht, Chladni-Scheiben als Bühnenmodelle entwirft, mit selbstgebauten Theremins seine Musik vorspielt, wird die Szenerie des Films selbst zum Musiktheater, wird seine Wohnung zur Bühne, die Klänge darin zu Musik, sein Tagesablauf zur eigentlichen Handlung.

Mit Sina Jacka , Bele Kumberger, Noriko Ogawa -Yatake, Christa Platzer (Gesang), Bernhard Stengel (Keyboard)
17 april/ 8 may/ 4+25 september 2016, 6pm

 

ingolf #2 geht arbeiten

ingolf, so konnte es scheinen beim ersten Teil von Kötter/Seidls sechsteiligem „ingolf“-Projekt, sei eine Person. Ein Film, allem Anschein nach dokumentarisch, live dabei kommentiert vom Gesang vierer Soprane, zeigte einen Tag im Leben des Instrumententüftlers Ingolf Haedicke samt dessen Nachdenken über neue Wege der Oper. Die Realisierung seiner Oper der Zukunft geht im nächsten Schritt nun überraschende Wege, führt den Zuschauer in verborgene Bereiche des MiR – seine Werkstätten, wo Theater „gemacht“ wird. Erneut überkreuzt Film sich mit Live-Geschehen, verschmelzen Realität und Inszenierung. Nur eine der Sängerinnen verbleibt von der Personage des ersten Teils. Auf der Leinwand erscheint sie in Haedickes Wohnung versetzt, ihr Morgenritual gleicht dem früheren Haedickes, von ihm aber fehlt jede Spur. Privat, vor dem Beginn ihrer Arbeit, erleben wir auch die Tischler. Andere Betten, Badezimmer, andere Kaffeemaschinen. Unterdessen entsteht ein Bühnenbild, das seltsam der Wohnung Haedickes gleicht, während Eingespieltes sich mit den verstärkten Geräuschen der Tischler mischt zur musikalischen Partitur von "ingolf geht arbeiten". Opernarbeit wird hier zur Oper, die Werkstätten des MiR zu ihrer Bühne.

 

Mit Sina Jacka, Bruno Kirchhof, Volker Lüdecke
4/25 september 2016, 7pm

 
 
ingolf #3 wohnt
 
Die reale Berliner Wohnung Ingolf Haedickes, filmisch dokumentiert in ingolf #1 lebt allein, bekommt nun ihr Theater-Double. Umgekehrt wird die Bühne des Musiktheater im Revier Gelsenkirchen (MiR) zu ingolfs temporärer Wohnstatt. War man bei ingolf #2 geht arbeiten noch Zeuge eines Musiktheaters im Werden, ist der Theaterbesucher nun eingeladen, das voll funktionstaugliche Wohnungs-Double zu bewohnen. Der Wohnraum ist real bewohnbar: Wasser- und Stromanschluss, Vorräte im Kühlschrank, ein Fernsehgerät, Instrumente, Herdplatten und ein Plattenspieler. Eine temporäre Theater-Konzert-Wohngemeinschaft für bis zu sechs Personen. Das Teilen des Wohnraums verlangt dabei - wie in jeder WG - die Verantwortung aller für Alltag und Kunst.
 
28 october 2016, 20 january 2017, 6-11pm
 
 
 
ingolf #4 zieht aus
ingolf #5 macht Freunde
 
Zu Beginn war ingolf noch allein, im Alltag, in seiner Wohnung, und in der Oper. Doch auf dem Weg zur Arbeit am Theater hat er all das mitgenommen, was sein Leben ausmacht: seine Kaffeemaschine und sein Bett, seinen Lötkolben und den selbstgebastelten Sinusgenerator. Endlich auf der Theater-Bühne angekommen, hat er die Besucher in seiner Wohnung kochen, arbeiten, schlafen und musizieren lassen. ingolf hat den Alltag der Oper in die Oper des Alltags überführt.  Doch jetzt ist es Zeit, dass ingolf abtritt, seine Rolle hat er gespielt. Es ist jetzt an uns allen zu übernehmen. Wir räumen aus, bauen ab, nehmen alles auseinander, und dann geht es raus, "raus aus dieser bürgerlichen Muffbude“. Wir tragen unseren Alltag mit Pauken und Trompeten aus dem Theater in die Stadt und nehmen alle mit, die wollen. Denn wir können unsere Oper nicht immer den anderen überlassen: Oper von allen statt Oper für alle. Unsere neue Bleibe schlagen wir direkt im Herzen der Stadt auf, am Heinrich-König-Platz, da, wo wir alle einkaufen, Kaffee trinken, arbeiten und rumhängen. Und dort machen wir Freunde fürs Alltagsleben, jeden Tag, in insgesamt sieben Akten. 
 
ingolf #4 zieht aus
Umzug durch die Stadt mit Spielmannszügen und Fanfarencorps und allen die mitmachen wollen
Beginn: 21. April, 18 Uhr, Treffpunkt: Kleines Haus, Musiktheater im Revier Gelsenkirchen
 
ingolf #5 macht Freunde
Oper von allen
ehemaliges Schuhhaus Bruhns, Neumarktgasse 2, Gelsenkirchen
28./29.4., 2.-6.5., täglich geöffnet 12-19 Uhr, 18 Uhr Konzert
 
ingolf #6 geht auf die Bühne
Eine begehbare Ouvertüre für Orchester, Sopran Solo und Chor
6. Juli 2017, 19.30 Uhr, Musiktheater im Revier Gelsenkirchen
 
Auf dem Weg durch Arbeit und Alltag, allein und mit Freunden, mit Gurkenbrot und Currywurst, haben wir an unsere alltäglichen Opern gedacht. Aber auch an die Sirenen, die so schön singen, dass einem die Sinne vergehen. Und jetzt, wo wir eigentlich den Alltag hinter uns lassen wollten, wenn ihr und wir und alle noch einmal die Bühne betreten und Orchester, Chor und Solisten auf den großen Auftritt warten, stellen wir fest, dass all das eh schon immer Oper war, seine Oper, unsere Oper, Oper von allen und wir noch nie etwas anderes spielen wollten als das.
 
ingolf #6 geht auf die Bühne ist die Summe aller Opern, denen wir täglich begegnet sind im letzten Jahr mit Euch, eine einstündige, begehbare Ouvertüre für Chor, Orchester, Elektronik und die Sopranistin Judith Caspari. Und das, was nur Vorbereitung, Vorstellung, Arbeit, fixe Idee schien, kehrt jetzt wieder und betritt die Bühne des großen Hauses im MiR: die Gesänge des Theremin, die Geräusche der Gewerke, die Monodie des Umzugs, ingolfs Wohnung, das Ticken der Pendel und nicht zuletzt die Currywurst. Es wird groß, und alle dürfen sich frei bewegen. Und am Ende wird ingolfs Traum der Oper wahr: „Eine Situation schaffen, wo man einfach gehen kann, ohne dass man dabei andere stört, man geht einfach weg.“